Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 179 – Dienstag, 3. August 1915
Unser Mädchen für alles. Am Sonntag vormittag wurde die Feuerwehr nach dem Grundstück Kopfstraße 9 gerufen. Dort war ein Pferd des Fuhrherrn Werk im Stalle umgefallen und vermochte nicht wieder auf die Beine zu kommen. Die Feuerwehr hob den Gaul in wenig Minuten auf.
Nr. 191 – Dienstag, 17. August 1915
Eckenstehen verboten. Das stellvertretende Generalkommando des 4. Armeekorps hat zum Schrecken aller Eckensteher und Müßiggänger eine Verordnung erlassen, wonach alle Männer, die keine Arbeitsgelegenheit haben, und die sich nichtstuend und faulenzend umhertreiben, von der Polizei festzunehmen und in eine Arbeitsanstalt zu bringen sind. In Halberstadt sind allein zwölf solcher Eckensteher festgenommen und nach dem Arbeitshaus in Seyda gebracht worden. – Sehr nachahmenswert!
Nr. 196 – Sonntag, 22. August 2015
Der Unfug am Neuköllner Schiffahrtskanal greift immer weiter um sich. Nicht genug, daß bisher Vorübergehende und Schiffer durch badende und angelnde halbwüchsige Burschen und Kinder – häufig auch Erwachsene – belästigt wurden, jetzt werden auch noch die von der Stadt getroffenen Rettungseinrichtungen beschädigt. So ist es in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß die Rettungsringe von den Leinen geschnitten und ins Wasser geworfen wurden. Die Leine wurde gestohlen und der Ring trieb in den Berliner Gewässern umher. Ferner wurden aus den Rettungskähnen Ruder und Dollen gestohlen, die Rettungskähne selbst mit schweren Steinen beworfen, so daß sie untergingen. Derartigem Unfug muß kraftvoll gesteuert werden. Die Polizei= und Kanalbeamten, deren Reihen durch Einberufungen zum Heeresdienst sehr gelichtet sind, allein können nichts tun. Sämtliche Mitbürger, denen doch gewiß daran liegt, daß die Rettungseinrichtungen in Ordnung sind, wenn ein Unglück geschieht, müssen mithelfen, diesem schädlichen Treiben Einhalt zu tun, und die Beamten in ihrem Vorgehen unterstützen. Leider konnte häufig beobachtet werden, daß Erwachsene gegen die ihre Pflicht erfüllenden Beamten Partei nahmen und tätlich gegen sie vorgingen.
Nr. 197 – Dienstag, 24. August 1915
Bestraftes Liebäugeln mit Kriegsgefangenen. Die Geschwister Gertrud und Frieda Glauer in Oberschöneweide und Frau Helene Fröhlich, geb. Hubrich, aus der Allerstraße in Neukölln hatten am Sonntag vor 14 Tagen auf der Spree bei Oberschöneweide eine Kahnfahrt unternommen. Sie hielten sich in der Nähe des Ufers und winkten vom Boote aus den auf dem Grundstück des Restaurants Hasselwerder befindlichen englischen Kriegsgefangenen zu. Obwohl Augenzeugen ihrem Unwillen Ausdruck gaben, ließen sie von ihrem Verhalten nicht ab. Sie ruderten vielmehr nach der anderen Seite hinüber, wo auf dem Gelände des Kabelwerks Oberspree ebenfalls gefangene Engländer untergebracht sind, die am Spreeufer saßen. Hier wiederholte sich das Schauspiel. Die Frauen sind wegen groben Unfuges mit einem Strafmandat in Höhe von je 30 Mark oder drei Tagen Haft bedacht worden. Außerdem hat der Amtsvorsteher von Oberschöneweide diesen Fall würdelosen Benehmens unter voller Namensnennung im Amtsblatt bekannt gegeben.
Nr. 198 – Mittwoch, 25. August 2015
Sammelt Weidenröschen! In der deutschen Jute=Industrie werden zurzeit Versuche angestellt, als Jute=Ersatz Faserstoffe zu verwenden, die aus dem überall in unserem Vaterlande wildwachsenden „Weidenröschen“ zu gewinnen sind. Zur Sammlung der erforderlichen, nicht unbeträchtlichen Pflanzenmengen wird die Hilfe der Schulkinder unter Anleitung der Lehrer gewünscht. Da diese Versuche wegen Abschneidens der Zufuhren von Rohjute Förderung verdienen, hat der Unterrichtsminister in einem Erlaß vom 7. August d. J. die Kreisschulinspektoren und Lehrer ermächtigt, entsprechenden Wünschen seitens der Jute=Industrie zu entsprechen.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Müßiggänger und Gelegenheitsarbeiter
Der Eckensteher – eine frühe Form der Ich-AG
Der Eckensteher war ein Gelegen-heitsarbeiter und Gepäckträger, der üblicherweise an Berliner Straßenkreuzungen herumlungerte, in deren Nähe eine Kneipe war. Ausgestattet mit einem Tragegurt für den Transport schwerer Lasten oder einem Hand wagen, wartete er dort auf schwer beladene Kunden, denen er half, ihre Lasten und Einkäufe nach Hause zu tragen oder ihr Gepäck von einem zum anderen Bahnhof zu transportieren. Dafür erhielt er einen kleinen Obolus von 12 bis 15 Silbergroschen, der meist auf dem schnellsten Wege in der Stammkneipe in Bier und Schnaps verwandelt wurde.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Tätigkeit des Eckenstehers öffentlich anerkannt. Er musste sich bei der Steuerbehörde registrieren lassen und bekam eine Steuernummer, die er auf einem weißen Metallschild auf einer schwarzen Armtuchbinde immer tragen musste, wenn er im »Dienst« war. Dazu gehörte ein Erlaubnisschein des Berliner Polizeipräsidiums, den er mitzuführen hatte.
»Das Nebengeschäft dieser Leute ist Möbel karren und Wäsche rollen, zu den Hauptgeschäften gehört: Müßiggang, Schnapstrinken und – Prügeln«, beschrieb der Schriftsteller Adolf Glaßbrenner im 19. Jahrhundert diese »zahlreichste und merkwürdigste Klasse unter allen Plebejern des stolzen Berlins.«
Mit seinem »Eckensteher Nante« kamen diese frühen »Ich-AGs« sogar zu literarischem Ruhm. Als echter Urberliner mit Herz und Schnauze, direkt, frech und kein Kind von Traurigkeit kommentierte er das Leben um ihn herum mit treffendem Humor und wurde so zur Verkörperung des Berliner Volkshumors und zum stadtbekannten Original.mr