Neuköllner Alltägliches

Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. RempeNK_Tagblatt-Kopf

Nr. 151 – Donnerstag, 1. Juli 1915
Die mangelnde Einfuhr pflanzlicher und tierischer Fette und Oele macht es zur Zeit notwendig, die zur Verfügung stehenden Mengen an solchen Stoffen mit größter Sparsamkeit zu verwenden und die aus den Hauswirtschaften fallenden Fettabgänge gewerblichen Zwecken zuzuführen. Größere Gastwirtschaften namentlich sollten deshalb darauf bedacht sein, die bedeutenden Fettabgänge aus ihren Betrieben in geeigneter Weise sorgsam aufzufangen und an Seifenfabriken oder ähnliche Gewerbebetriebe regelmäßig abzugeben.

Nr. 152 – Freitag, 2. Juli 1915
Die geheimnisvolle Blutlache. An der Ecke der Richard= und Ganghoferstraße erregte gestern vormittag eine große Blutlache, welche den Fahrdamm in seiner vollen Breite bedeckte, die Aufmerksamkeit aller Vorübergehenden. Fast jeder Fußgänger, der die Ecke passierte, blieb stehen und fragte sich, welcjhes Unglück hier wohl geschehen sein möchte. Bald erschien ein Spülwagen der Straßenreinigungsanstalt und machte sich daran, das Blut hinwegzuspülen, was jedoch viele Mühe verursachte. Dabei erfuhr man auch, daß die Blutlache nicht von einem Unglücksfall herrührte, sondern daß ein unvorsichtiger Schlächter einen großen Eimer Blut, der zur Bereitung delikater Blutwurst bestimmt war, umgeworfen hatte.

Nr. 159 – Sonnabend, 10. Juli 1915
Zur Warnung für Bäcker. Eine Frau hatte nach einem Backwaren-einkauf bemerkt, daß die sie bedienende Bäckerfrau von der Brotmarke einen Abschnitt über 25 Gramm mehr als ihr zukam, abgetrennt hatte. Es wurde darauf Anzeige gegen die Bäckerfrau erstattet. Das gegen sie eingeleitete Strafverfahren hatte das Ergebnis, daß die Angeklagte vom Schöffengericht zu 150 M. Geldstrafe verurteilt wurde, denn der Gerichtshof ließ die vorge-brachten Entschuldigungsgründe nicht gelten und nahm eine bewußte Übervorteilung an, gegen die das kaufende Publikum geschützt werden müsse. In der Verhandlung in der Berufungsinstanz ließ sich die Angeklagte durch einen von ihr angerufenen medizi-nischen Sachverständigen bestätigen, daß sie sehr kurzsichtig ist, auch traten zu ihrer Entlastung mehrere Zeuginnen auf, die bekundeten, daß die Angeklagte infolge ihrer Kurzsichtigkeit manchmal einen zu kleinen Abschnitt von der Brotkarte losgetrennt hatte und von den Kundinnen erst darauf aufmerksam gemacht werden mußte. Unter diesen Umständen hielt der Gerichtshof einen bloßen Irrtum der Angeklagten nicht für ausgeschlossen und erkannte unter Aufhebung des ersten Urteils auf Freisprechung.

Nr. 165 – Sonnabend, 17. Juli 1915
Lohnzahlung in Papiertüten. Der Eisenbahnminister hat folgenden Erlaß an die Eisenbahndirektionen gerichtet: Bei Versuchen im Eisenbahndirektionsbezirk Altona hat sich die Verwendung von Papiertüten anstatt der Blechbüchsen bei Lohnzahlungen an Werkstättenarbeiter nicht nur gut bewährt, sondern es sind dabei auch wirtschaftliche Vorteile erzielt worden. Nachdem sich auch der Finanzausschuß für die Zweckmäßigkeit des Verfahrens ausge-sprochen hat, werden die königlichen Eisenbahndirektionen ermächtigt, Papiertüten zur Lohnzahlung dann einzuführen, wenn neue größere Werkstätten in Betrieb genommen werden, oder bei bestehenden Werkstätten ein großer Teil der im Gebrauch befind-lichen Blechbüchsen zu erneuern wäre.

Nr. 172 – Sonntag, 25. Juli 1915
Keine Glasscherben auf den Straßendamm werfen! Die bedauerliche Unsitte, Flaschen und Scherben auf das Straßenpflaster zu werfen und hierdurch besonders die Reifen der Fahrräder und Kraftwagen zu gefährden, ist leider auch in der Umgebung von Berlin immer noch zu beobachten. Da die meisten jetzt noch verkehrenden Kraftwagen im Heeresdienste tätig sind, werden ernste vaterländische Interessen durch die Beschädigung der Reifen gefährdet. Es ist daher Pflicht des Publikums, mit Nachdruck dafür einzutreten, daß die Straßen von Flaschen und Scherben frei bleiben.

Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1915 übernommen. Das Original befindet- sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.

Das kommt gerne in die Tüte

Mit der Lohntüte auf den »Lohntütenball«

Noch bis in die 1950er- Jahre bekamen Arbeiter und Angestellte das Arbeitsentgelt in bar ausgezahlt; wöchentlich oder zweiwöchentlich – in einer Papiertüte.

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Lohntüte aus den 40er-Jahren.                                                                                                                        Foto: historisch

In der Farbe bräunlich hatte sie etwa die Größe eines DIN-A5-Umschlags und war aus stabilem, ziemlich reißfestem Papier. Auf der Lohntüte stand der Name des Arbeitnehmers und der Nettobetrag der Zahlung. In der Tüte lag das Bargeld – Geldscheine und Münzen – und der handschriftlich ausgefüllte Lohnstreifen mit den Abrechnungsdaten. Auf der Vorderseite wurde der enthaltene Betrag handschriftlich erläutert. Was nicht bezahlt wurde, »kam nicht in die Tüte«.
Zu Hause wurden dann »Kassen« angelegt für Miete, Strom oder Haushaltsgeld. Damit wurden dann die Rechnungen bar bezahlt.
Damit das Geld aber auch zu Hause ankam, erwarteten viele Frauen ihren Gatten am Zahltag schon vor dem Werkstor, um ihm die wertvolle Tüte abzunehmen, bevor deren Inhalt in der nächstgelegenen Gaststätte verflüssigt wurde. Denn in vielen Gaststätten hieß es am Zahltag stets »Lohntütenball«. Erst wurden die Deckel des Vormonats bezahlt, und dann wurde ordentlich gefeiert.
In Deutschland wurde diese bare Lohn- und Gehaltszahlung erst ab 1957 langsam verdrängt, als immer mehr Unternehmen und Verwaltungen dazu übergingen, Löhne und Gehälter auf Girokonten zu überweisen. mr