Nachrichten aus dem »Neuköllner Tageblatt« vor 100 Jahren, bearbeitet von M. Rempe
Nr. 59 – Mittwoch
11. März 1914
Frühjahrsmüdigkeit nennt man im Volke jenen schlaffen, körperlichen Zustand, der sich gewöhnlich noch vor dem kalendermäßigen Frühlingsbeginn einstellt und oft wochenlang anhält. Selbst kräftige Menschen, die sonst selten über Müdigkeit klagen, empfinden zu dieser Zeit, daß ihnen »Blei in den Gliedern liegt«, wenn sich dazu nicht gar rheumatische Schmerzen und Kopfschmerzen bemerkbar machen. Die Ursachen dieses körperlichen Mißbehagens, das auch noch in großem Schlafbedürfnis bei den einen, in Schlaflosigkeit bei den anderen seinen Ausdruck findet, liegen in der Veränderung der körperlichen Gewebe und Organe, welche sich auf die sommerliche Zeit vorbereiten. Sie dehnen sich zunächst aus. Die gleichzeitige Ausdehnung von tausend und abertausend kleinsten Einzelteilchen des Körpers ruft jedoch eine förmliche Revolution im Körper hervor, die die fühlbare Erschlaffung sehr begreiflich macht. Auch ist die Möglichkeit vorhanden, daß das Blut eine entsprechende Veränderung in der Zusammensetzung wie im Umlauf erfährt. Schwächliche Menschen sollten sich jetzt vor allem Ueberhasten besonders hüten und ab und zu ein paar Minuten zwischen der Arbeit ausruhen.
Nr. 72 – Donnerstag
26. März 1914
Neue Rohrpostverbindungen in Groß-
berlin. Den Klagen über ungenügende Rohrpostverbindungen zwischen Berlin und den Vororten will die Reichspostverwaltung jetzt Rechnung tragen. Nachdem vor einigen Monaten Steglitz an das Rohrpostnetz Berlins Anschluß erhalten hat, sollen jetzt auch Grunewald, Lichtenberg und Weißensee angeschlossen werden. Pankow wird voraussichtlich im nächsten Jahre Rohrpostverkehr mit Berlin erhalten.
Nr. 74 – Sonnabend
28. März 1914
Das Besteigen einer höheren Wagenklasse bei Platzmangel auf der Stadtbahn betrifft eine Verfügung der Eisenbahndirektion, die sich gegen den vielverbreiteten Irrtum richtet, man dürfe bei Platzmangel auf eine Fahrkarte dritter Klasse in zweiter Klasse fahren. Man hört in solchen Fällen oft die Entschuldigung, ein Stationsbeamter habe jene Fahrgäste wegen Platzmangels in die zweite Klasse verwiesen, wie dies im Fernverkehr ausnahmsweise zugelassen ist. Im Berliner Stadt= und Vorortverkehr ist dies völlig ausgeschlossen, denn hier ist es den Beamten direkt verboten, Reisenden bei Platzmangel die Fahrt in höherer Klasse mit Fahrkarten niedrigerer Klassen ohne vorherige Lösung der entsprechenden Zusatzkarten zu gestatten.
Die Transkription des Zeitungstextes wurde mit Fehlern in der Rechtschreibung aus dem Original von 1913 übernommen.
Die Originale befinden sich in der Helene-Nathan-Bibliothek.
Die Post im Untergrund
Die Berliner Rohrpost
Die erste Berliner Rohrpoststrecke zwischen dem Haupttelegrafenamt in der Französischen Straße und dem Börsengebäude in der Burgstraße wurde am 17. November 1865 eröffnet. Etwa 60 Zentimeter unter der Straßenoberfläche verliefen die Rohrleitungen, durch die mittels Luftdrucks Briefe, Telegramme, Postkarten oder kleine Pakete von einer Sendestation zu einer Empfangsstation befördert wurden.
1881 wurden Charlottenburg, Schöneberg und Kreuzberg angeschlossen, Neukölln folgte 1908. Bis 1935 war das Netz auf 400 Kilometer angewachsen und verband Postämter, Ministerien, Zeitungsredaktionen, Banken und wichtige Büros.
Rohrpost Empfangsstation.
Foto: Berliner Unterwelten
Die Rohrpostbüchsen wurden meist zu Zügen zusammengestellt und verkehrten nach einem genau festgelegten Fahrplan. Ein Rohrpostbrief kostete 30 Reichspfennige, ein normaler Brief nur fünf. Trotz der höheren Tarife erfreute sich die Stadtrohrpost höchster Beliebtheit, denn sie war unschlagbar schnell und sie war, im Gegensatz zu Telegrafie und Telefonie, abhörsicher. Ungehindert vom oberirdischen Verkehrschaos sausten die Sendungen mit bis zu 30 Stundenkilometern ihrem Bestimmungsort entgegen. Ein Rohrpostbeamter verlud, leitete und entlud die »Bömbchen« und sorgte für das pünktliche Eintreffen der Sendungen. Vom Postamt zum Empfänger übernahm dann der Eilbote. Innerhalb von nur einer Stunde konnten so Informationen sicher ihren Besitzer wechseln.
Zu Beginn der dreißiger Jahre wurde die Anlage komplett modernisiert. Dank elektrischer Weichensteuerung konnten die Büchsen jetzt ohne Zwischenstopp ihr Ziel selbständig ansteuern. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit wurde verdoppelt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Niedergang der Rohrpost. Die Entwicklung des Fernschreibers und die Ausbreitung des Telefons ließen den Betrieb immer unwirtschaftlicher erscheinen. Die Teilung der Stadt tat ein Übriges. 1961 ließen die DDR-Behörden alle Rohre in den Westteil kappen.
mr